Kinder- und Jugendleitlinie erschienen: mit evidenzbasierter Medizin für eine gute, am Einzelfall orientierte Versorgung

Der Bundesverband Trans* begrüßt die Veröffentlichung der wissenschaftlich-medizinischen Leitlinie zur Geschlechtsinkongruenz und Geschlechtsdysphorie im Kindes- und Jugendalter – Diagnostik und Behandlung (S2k) AWMF-Register-Nr. 028 – 014.

Mari Günther, Referentin für Beratungsarbeit und Gesundheitsversorgung beim BVT*, sagt dazu: „Die Leitlinie beruht auf den Erkenntnissen evidenzbasierter Medizin, den Rahmensetzungen der Weltgesundheitsorganisation und medizinethischen Grundsätzen. Sie ermöglicht soziale Akzeptanz und medizinische Begleitung von gendervarianten und trans* Kindern und Jugendlichen in Deutschland. Ihr zentrales Anliegen ist die sorgfältige am Einzelfall orientierte medizinische Begleitung der behandlungssuchenden Jugendlichen und ihrer Eltern unter Berücksichtigung der Selbstbestimmung und der sich entwickelnden Einwilligungsfähigkeit Minderjähriger.“

Der Bundesverband Trans* war neben TransKinderNetz e.V. als eine der beiden beteiligten Selbstvertretungsorganisationen an der Erstellung der Leitlinie von Beginn an eingebunden. Die Einbeziehung von Selbstvertretungs- oder Patient*innenorganisationen ist ein wichtiges Qualitätsmerkmal bei der Erstellung wissenschaftlich-medizinischer Leitlinien (AWMF 2023). Die gemeinsame Arbeit bestand aus der Bewertung der wissenschaftlichen Studienlage und dem Diskurs aus der Perspektive der vielfältigen Versorgungspraxis der mandatierten Personen. Hier flossen auch die Erfahrungen aus den Trans*beratungsangeboten der Mitglieder des BVT* aus dem Bundesgebiet mit ein. Es entstand ein breiter Konsens für die einzelnen Statements und Empfehlungen gemeinsam mit den 26 beteiligten medizinischen Fachgesellschaften und Berufsverbänden.

Mari Günther weiter: „Als ein besonderes Qualitätsmerkmal der Leitlinie betrachtet der BVT* die Kapitel zum diskriminierungssensiblen Umgang und ethischen Maßgaben in der Behandlung Minderjähriger, da die Entpathologisierung des trans*geschlechtlichen Erlebens noch nicht bei allen Versorger*innen zu einer Anpassung der professionellen Haltung und des Umgangs mit den Kindern und Jugendlichen geführt hat. Diese Kapitel geben gute und klare Empfehlungen für die praktische Arbeit als auch für die Reflexion der eigenen Vorannahmen und Überzeugungen im Umgang mit trans* und nicht-binären Jugendlichen und ihren Eltern.“

Das trans*geschlechtliche Erleben ist nach Auffassung der WHO keine Störung der Geschlechtsidentität (F64) im Sinne psychischer Erkrankungen mehr. Stattdessen wurde die Diagnose der Geschlechtsinkongruenz (HA60) unter einer neuen Rubrik mit dem Titel „Zustände mit Bezug zur sexuellen Gesundheit“ (engl. conditions related to sexual health) neu eingeführt (WHO, 2022). Diese Verankerung einer medizinischen Diagnose in der ICD-11 war notwendig – im Unterschied zur ehemaligen Diagnose Homosexualität, die 1990 gestrichen wurde – da sich ein medizinisch begründeter Behandlungsbedarf ergeben kann. Die Geschlechtsinkongruenz (GI) als neuer diagnostischer Begriff für die Trans*geschlechtlichkeit ist damit nicht per se krankheitswertig. Gleichwohl ist sie als ein gesundheitsrelevanter Zustand anerkannt, der medizinisch behandlungsbedürftig sein kann, um einen als Geschlechtsdysphorie (GD) bezeichneten spezifischen Leidenszustand abzuwenden oder zu reduzieren (DGKJP 2025).

Mari Günther sagt dazu weiter: „Dieser Paradigmenwechsel im Verständnis von Trans*sein ist eine gewisse Herausforderung nach einer über viele Jahrzehnte hinweg bestehenden Betrachtungsweise als Krankheit. Der BVT* erhofft sich für die nahe Zukunft eine deutliche Verbesserung der praktischen Versorgung Minderjähriger, da die Leitlinie fachliche Orientierung und Handlungssicherheit vermittelt. Gendervariante Kinder und Jugendliche brauchen gesellschaftliche Akzeptanz und familiäre Unterstützung für ihr trans*geschlechtliches Erleben. Nur so können sie sich angstfrei erproben und sich mit ihrer Geschlechtsidentität auseinandersetzen.“

Allerdings wird dieser positiven und menschenrechtsorientierten Entwicklung derzeit vielfach von antifeministischen oder rechtsextremen Akteur*innen mit Falschinformationen über die medizinische Versorgung trans* und nicht-binärer Kinder und Jugendlicher begegnet. Das Thema „Kinderschutz“ wird instrumentalisiert, um sich gegen die Selbstbestimmungsrechte – und damit Menschenrechte – von trans* Personen ganz allgemein zu stellen. Mit wissenschaftsfernen Argumenten und Falschbehauptungen wird das notwendige medizinisch verantwortliche Handeln als Gefahr für Kinder und Jugendliche gerahmt. Fachlich fundierte Ansätze und Aufklärung werden diffamiert, um Rollenbilder und Beziehungsmodelle, die extrem rechten Weltbildern entsprechen, als die einzig richtigen zu darzustellen.
Mari Günther sagt dazu: „Die medizinische Leitlinie stellt den aktuellen wissenschaftlichen Konsens dar, gibt ausgewogene Handlungsempfehlungen, und ist eine gute Orientierung, um Falschinformationen und populistisch verkürzte Behauptungen als solche zu erkennen.“

Weiterführende Links:
AWMF 2023
WHO 2022
DGKJP 2025: Anmeldung der Leitlinie und hier ist die veröffentlichte Leitlinie zu finden

Dieses Statement ist auch als Presseerklärung des BVT* erschienen und kann als PDF heruntergeladen werden.

Grafik. Unten steht: "Die wissenschaftlich-medizinische Leitlinie zur Geschlechtsinkongruenz und Geschlechtsdysphorie im Kindes- und Jugendalter ist erschienen" Schwarzer Text auf gelbem Hintergrund. Oberhalb des Textes sind zwei gezeichnete Personen zu sehen: Eine jugendliche Person sitzt auf einer Liege in einem Arztzimmer. Daneben steht eine Ärztin. Sie unterhalten sich und sehen dabei entspannt aus. Beide lächeln. Sie unterhalten sich über Hormonbehandlung. Das sieht man daran, dass kleine Sprechblasen zwischen ihnen zu sehen sind. Dort sind aber keine Worte, sondern eine gezeichnete Spritze und eine gezeichnete Flasche, die Flüssigkeit enthält, die gespritzt werden könnte.